Klimaprognosen sind nutzlos – so what?

Der sehr bewusst gewählte Titel dieses Beitrag klingt beim ersten Lesen womöglich etwas verwirrend. Als gestandener Klimaaktivist weiß man schließlich, dass sich das Gros der Wissenschaft über die Existenz eines anthropogenen Klimawandels einig ist – auch wenn Unklarheit über die Tragweite dieses Einflusses besteht. Wohingegen der geneigte Klima“skeptiker“ (offenbar sind sie vor allem skeptisch gegenüber Positionen, die sie nicht verstehen, selten aber ihrer eigenen) nicht müde zu betonen wird, dass die vergangenen Untergangsprognosen mit verlässlicher Regelmäßigkeit danebenlagen. Kein gigantisches Waldsterben, keine Inseln, die reihenweise untergehen und auch das Ozonloch scheint bis etwa 2075 wieder geschlossen zu sein.

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Quelle

Gemäß dieser Logik ist es nur folgerichtig, dem Alarmismus von Greta Thunberg und der von ihr inspirierten Bewegung Fridays for Future mit Skepsis zu begegnen. Klingt nachvollziehbar, oder? Das liegt jedoch nicht daran, dass das dahinterstehende Argument so schlagkräftig ist, sondern weil wir Menschen oftmals die uns umgebende Welt nicht verstehen.
Da offenbar die deutschsprachige Community hier zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus Menschen besteht, die einen starken menschlichen Einfluss auf den Klimawandel bestreiten, sah sich @sco vor ein Tagen bereits genötigt, ein paar Basics zu erklären. Ich möchte seinen Ansatz gerne weiterführen und einen weiteren Aspekt betrachten, der in der Debatte oft zu kurz kommt.

Komplexe Systeme und Zufall

Dem menschlichen Verstand ist es ein ureigenes Bedürfnis, überall kausale Verbindungen zu erkennen, um sich dadurch die Welt zu erklären. Wir sehen, dass die Erde sich seit der Zeit der industriellen Revolution zunehmend erwärmt, daher ist es völlig klar, dass der Mensch daran die Schuld trägt. Oder befindet sich das Klima doch nur wieder in einer Warmphase und der menschliche Einfluss ist vernachlässigbar klein, daher weiter wie gehabt?
Keine dieser Positionen erkennt, dass es eigentlich keine Rolle spielt, wer tatsächlich „Schuld“ trägt, denn jegliche Prognosen, die auf der Annahme linearer Zusammenhänge basieren, sind völlig nutzlos (das wird innerhalb der Klimawissenschaften glücklicherweise nicht mehr getan, die weitreichende Einigkeit über einen anthropogenen Einfluss besteht dennoch). Bevor nun allerdings die Klimaskeptikerfraktion triumphierend die Arme in die Luft wirft, ist ein etwas umfangreicherer Exkurs in puncto komplexe Systeme notwendig.
Wer meine letzten beiden Artikel hier gelesen hat, der wird bemerkt haben, dass zu meinen aktuellen Freizeitbeschäftigungen gehört, mich in die Literatur komplexer Systeme einzulesen. Daraus ergeben sich eine ganze Reihe interessanter Erkenntnisse über die uns umgebende Welt und demzufolge auch das Klima. Aber der Reihe nach.

Komplexe Systeme treten in vielfältigen Formen auf. Sei es innerhalb der Ingenieurswissenschaften, um komplexe Kreisläufe wie beispielsweise den Verkehrsfluss zu modellieren; den Informations- und Kommunikationswissenschaften, die sich unter anderem mit dem Fluss und der Interaktion von Informationen innerhalb von Netzwerken beschäftigen oder aber den Politik- und Wirtschaftswissenschaften sowie deren Betrachtungsfelder. Und, natürlich, gehören auch die Klimawissenschaften dazu.
Komplexe Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus unzähligen Komponenten bestehen, die unter Umständen miteinander interagieren. Zu den Eigenschaften dieser Interaktionen gehören Nichtlinearität (aus A folgt nicht zwangsläufig B, Proportionalität ist nicht gegeben), Adaptivität (die Fähigkeit, auf Veränderungen zu reagieren), Emergenz (übergeordnete, neue Eigenschaften, die sich nicht in den einzelnen Komponenten finden lassen), Feedbackschleifen und noch einige weitere, die für das grundlegende Verständnis aber nicht allzu bedeutend sind[1].

Nun sind das eine ganze Menge Buzzwords, die beim ersten Lesen für etwas Verwirrung sorgen können. Zur besseren Veranschaulichung soll daher ein Beispiel dienen.
Komplexe Systeme zeichnen sich oft durch eine langfristige, inhärente Robustheit gegenüber geringeren Störeinflüssen aus. Das bedeutet, dass selbst eine Vielzahl kleinerer Problemfälle nicht zur Zerstörung des gesamten Systems führt (wohlgemerkt existiert hierbei natürlich ein gewisses Limit und irgendwann kippt jedes System, mehr dazu später). Man nehme einmal das Internet. Selbst wenn einzelne Provider Netzprobleme haben, so wird das zwar für einzelne Nutzer sehr unangenehm sein, das Internet als globales Netzwerksystem wird davon aber nicht bedroht sein und demzufolge auch nicht zusammenbrechen. Die Infrastruktur selbst wird von großen Knotenpunkten, sogenannten Internet Exchange Points, sichergestellt, deren bedeutendster sich aktuell in Frankfurt am Main befindet. Sollte dieser mit technischen Schwierigkeiten zu kämpfen haben, wird dadurch vermutlich auch noch nicht das gesamte System den Bach runtergehen, aber man darf bereits mit wesentlich schwerwiegenderen Folgen rechnen. Falls gleichzeitig mehrere dieser Knotenpunkte betroffen sind, werden wir allerdings vor einem ernsthaften Problem stehen. Die Wahrscheinlichkeit eines solchen Ereignisses mag gering sein, sollte aber dennoch nicht unterschätzt werden[2].

Es ist daher wichtig, sicher jener Dynamiken innerhalb komplexer Systeme bewusst zu sein, die oft auch als „Fat Tails“ bezeichnet werden. Dieser Begriff ist im Grunde die technische Formulierung der bereits von mir erklärten Black-Swan-Events, also seltene, aber hochgradig einflussstarke Ereignisse, die oftmals weitreichende Folgen nach sich ziehen. Das, was die meisten Studenten während ihrer statistischen Grundausbildung kennenlernen, ist die Auseinandersetzung mit Normalverteilungen und daraus abgeleiteten Eintrittswahrscheinlichkeiten für seltene Ereignisse. Solche werden auch als 5-Sigma-Ereignisse bezeichnet, also jene Vorkommnisse, deren Entfernung vom Mittelwert fünf oder mehr Standardabweichungen entspricht. In einer normalverteilten Welt würde daraus folgen, dass diese Ereignisse hochgradig unwahrscheinlich sind. Statistiker wie Mandelbrot[3] und Taleb[4] argumentieren hingegen, dass in einer komplexen Welt vor allem Fat-Tail-Verteilungen relevant sind und Normalverteilungen das Risiko seltener Ereignisse oftmals unterschätzen.

Allerdings können nicht nur extreme Ereignisse relevant sein, sondern ebenso der kumulative Einfluss kleinerer Variablen. Durch die inhärente Nichtlinearität komplexer Systeme kann es zu Vorgängen kommen, die auf den ersten Blick wenig intuitiv wirken. Scott E. Page veranschaulichte das anhand eines sehr schönen Beispiels - der Algenentwicklung eines Teiches:
Algen sind oftmals eine Folge erhöhter Phosphatkonzentrationen innerhalb eines Gewässers. Es dauert aber eine Weile, bis aus einem klaren Teich ein algenverseuchter Tümpel wird. Das Besondere hieran ist, dass es kein gradueller Wandel, sondern ein sehr schnelles Kippen des gesamten Systems ist. Für eine Weile kann das System des Teiches mit der erhöhten Phosphatkonzentration ganz gut umgehen, irgendwann kommt allerdings der Punkt, an dem dies nicht mehr der Fall ist und das System vollzieht einen fundamentalen Wandel, in dem sich die Algen so wohl wie nie zuvor fühlen. Die graduelle Erhöhung der Phosphatkonzentration führt in letzter Konsequenz dazu, dass ein Fat-Teil-Ereigniss eintritt, welches das ursprüngliche System komplett aus der Bahn wirft[5].
Nun ist dieses Beispiel ein sehr einfaches und soll nur als Analogie zum Verständnis dienen, denn wir können mittlerweile recht gut erklären, warum es zu diesem Umbruch kommt. In wesentlich komplexeren Domänen wird das aber ungleich schwieriger, um nicht zu sagen unmöglich. Womit sich der Kreis schließt und wir wieder beim ursprünglichen Thema angelangt wären.

Das Klima der Erde gehört offensichtlich zur Gruppe komplexer Systeme. Allerdings ergibt sich daraus auch das Problem, dass das Verhalten solcher Systeme unmöglich exakt vorherzusagen ist, da kein Modell sämtliche Komponenten in seine Berechnungen mit einbeziehen kann. An dieser Stelle fühlt sich der Klimaskeptiker nun vollends bestätigt, denn schließlich wusste er schon immer, dass man diesen ganzen Klimawissenschaftlern und deren Prognosen nicht über den Weg trauen kann. Ohne es zu bemerken, fällt er damit allerdings einem der ältesten Probleme der Wahrheitsfindung zum Opfer: dem Induktionsproblem, das ich bereits hier ausführlicher betrachtet habe.
Das Scheitern vergangener Prognosen ist kein verlässlicher Indikator dafür, dass es stets so bleiben muss. In einer komplexen Umgebung ist es unmöglich, offensichtliche kausale Zusammenhänge herzustellen, aber wenn immer mehr potenzielle Stressoren hinzufügt werden, kann sich das Risiko erhöhen, verheerende Ereignisse zu verursachen.

Klimamodelle stehen nun vor dem Problem, dass sie von Natur aus probabilistisch sind, auf Basis vergangener Daten operieren und de facto keine völlig akkuraten Vorhersagen liefern können[6]. Das ist spricht allerdings weniger gegen die Verwendung der Modelle, sondern den daraus abgeleiteten Kommunikationsstrategien. Von Medien und Aktivisten wird oftmals eine Vorhersagesicherheit suggeriert, die schlicht nicht existiert – muss sie aber auch nicht, um sinnvollere Umweltschutzstrategien zu fordern.
Es gab in der Vergangenheit immer wieder Szenarien, in denen vor einer möglichen Katastrophe gewarnt worden, die dann aber nicht eingetreten ist. Man nehme beispielsweise die Warnung vor einer Bevölkerungsexplosion in den 60ern, namentlich durch Paul Ehrlich vertreten[7]. Er sprach davon, dass um etwa 1980 herum, jegliche relevanten Meerestiere ausgestorben sein werden. Offenbar ist das nicht so gekommen, weil unzählige Faktoren sich in eine Richtung entwickelt haben, die er und andere Anhänger dieser Idee nicht kommen haben sehen. Wie auch? Solche Prognosen sind von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Davon jedoch abzuleiten, dass es in der Vergangenheit immer wieder verschiedene Klimaepisoden gab und selbst wenn sich die Lage zuspitzt, die Menschheit in der Lage sein wird, eine neue Erfindung zu entwickeln, die das Schlimmste verhindert, ist gefährlich naiv. In einer komplexen Welt lassen sich keine Prognosen auf der Grundlage von vergangenen Daten ableiten. Man kann seltene Ereignisse schlichtweg nicht berechnen. Eine hohe Risikoaversion und damit der Schutz der Umwelt ist die tatsächlich rationale Entscheidung. Menschen neigen dazu zu vergessen, dass in komplexen Systemen Eins plus Eins nicht immer Zwei ergibt, sondern oft weitaus mehr (Stichwort: Nichtlinearität). Stressoren können als super-additive Funktionen wirken und enorme Schäden verursachen.
Niemand weiß, was passieren wird, kein Modell ist in der Lage, die Zukunft vorherzusagen.
Die Sache ist: Das ist nicht nötig, um zu erkennen, dass das Beeinflussen von Systemen, die man nicht versteht, unbeabsichtigte, negative Folgen haben kann. Durch das Entfernen oder zumindest Verlangsamen einiger Stressoren kann jedoch das Risiko von extremen Ereignissen reduziert werden. Es bedarf keiner linearen Beweisführung oder apokalyptischer Prognosen, um sich des möglichen Schadens bewusst zu sein, den die eigenen Handlungen verursachen könnten.

Die Klimaforschung selbst ist sich der Schwierigkeit bezüglich der Prognosen innerhalb komplexer Systeme auch sehr gut bewusst und artikuliert diese auch entsprechend. Vor allem die Vorarbeit durch Edward Lorenz und dem nach ihm benannten Lorenz-System, in der Populärkultur auch als Schmetterlingseffekt bekannt (ironischerweise wird dieser oftmals fehlinterpretiert in einer Weise, dass man mehr Acht auf kleine Details geben solle, da ihr Einfluss so groß sein könnte – obwohl unzählige davon existieren und man nicht weiß, welche nun die relevanten sind)[7].
Kernaussage eines Lorenz-Systems ist, dass man innerhalb eines physikalischen Systems unmöglich sämtliche Ausgangsvariablen kennen kann, woraus folgt, dass die Vorhersage zukünftigen Verhaltens zwangsläufig fehlschlagen muss, selbst wenn das System hochgradig deterministisch ist und man Quanteneffekte einmal völlig außen vor lässt.
Snyder et al. ziehen auf Basis dieser Unmöglichkeit eine sehr sinnvolle Schlussfolgerung, die sich an die Argumente von Mandelbrot und Taleb anlehnt. Gerade weil das Treffen exakter Prognosen keine realistische Option darstellt, ist es umso wichtiger, die menschlichen Systeme in einer Weise zu entwickeln, die ihr Überleben auch beim Eintreten von Fat-Tail-Ereignissen sicherstellen. Das bedeutet vor allem eben auch, die Anzahl möglicher Stressoren zu reduzieren[8].
Daraus lässt sich ableiten, dass man dem pessimistischen aller Modelle vertrauen sollte, wohlwissend, dass es mitunter noch schlimmer kommen kann, da jedes einzelne vermutlich bis zu einem gewissen Grad falsch liegt. Man kann die Verlässlichkeit von akkuraten Prognosen anzweifeln, aber genau das als Anlass nehmen, sich extrem konservativ zu positionieren und nach besseren Maßnahmen als bisher zu schauen. Das hätte vor allem im öffentlichen Diskurs den Vorteil, dass man die Unzulänglichkeit korrekter Prognosen anerkennen und trotzdem bessere Umweltschutzmaßnahmen fordern kann.

Umweltschutz ist menschlich

Man muss den Klimaskeptikern zugutehalten, dass korrekte Vorhersagen tatsächlich nicht zu den Dingen gehören, die man als lobenswerte Eigenschaften des menschlichen Verhaltens anführen würde. Daraus jedoch den Schluss abzuleiten, dass schon alles irgendwie funktionieren würde, wird dem Problem nicht gerecht. Da für viele Menschen der Klimawandel ein sehr abstraktes Phänomen darstellt, hilft es, die soeben ausgeführte Argumentation auf ein vertrauteres Ereignis zu übertragen: die Finanzkrise von 2008.
Der Großteil der Ökonomen hat einen derartigen Crash weder kommen gesehen, geschweige denn für möglich gehalten. Die mathematischen Modelle der damaligen Wirtschaftswissenschaften sahen solche Katastrophen nicht vor, dabei war es natürlich keinesfalls die erste Weltwirtschaftskrise. Es liegt in der Natur seltener Ereignisse, dass sie sich nicht vorhersagen lassen. Die globale Wirtschaft stellt ein nicht minder komplexes System als das Klima dar. Dementsprechend stehen Prognostiker auch hier vor denselben Problemen. Auch damals gab es eine Handvoll Skeptiker, die davor warnten, dass das Finanzsystem irgendwann vor einem riesigen Kollaps stehen könnte. Sie haben Recht behalten. Bedeutet das automatisch, dass die Klimaskeptiker von heute ebenso richtig liegen? Vielleicht. Vielleicht auch nicht. Niemand weiß es. Es wäre zu wünschen, doch das Risiko, dass dem nicht so ist, lässt sich kaum von der Hand weisen.
Die öffentliche Debatte steht vor einem seltsamen Paradox:
Selbst wenn der anthropogene Klimawandel nicht (oder nicht in dem starken Ausmaß) existiert und die Welt wie sonst auch in bester Ordnung sein wird - worin besteht das Problem, zumindest zu versuchen, nachhaltiger zu leben? Selbst wenn man nicht vollends vom apokalyptischen Narrativ überzeugt ist, gibt es unbestreitbare Umweltprobleme, die sich nachteilig auf die Qualität des menschlichen Lebens auswirken. Die Erde selbst wird es auch weiterhin geben. Sie existiert einfach. Ihr ist es egal, ob einige intelligente Affen sie bewohnen oder nicht. Der Schutz unserer Umwelt dreht sich nicht so sehr um den Planeten, sondern vor allem um uns selbst. Es ist etwas zutiefst Humanistisches.


Quellen

[1] Boeing, Geoff. Visual Analysis of Nonlinear Dynamical Systems: Chaos, Fractals, Self-Similarity and the Limits of Prediction

[2] http://www.drpeering.net/white-papers/Art-Of-Peering-The-IX-Playbook.html

[3] Mandelbrot, B. (1997). Fractals and Scaling in Finance: Discontinuity, Concentration, Risk. Springer

[4] Taleb, N. N. (2007). The Black Swan. Random House and Penguin.

[5] Scott E. Page: Understanding Complexity

[6] https://www.climate.gov/maps-data/primer/climate-models?fbclid=IwAR1sOsZVcE2QcxmXpKGvutmMHuQ73kzcvwrHA8OK4BKzqKC1m4mvkHvxeFg

[7] Ehrlich, Paul R. (1968). The Population Bomb. Ballantine Books.

[8] Lorenz, Edward Norton (1963). "Deterministic nonperiodic flow". Journal of the Atmospheric Sciences.

[9] Snyder, Carolyn W.; Mastrandrea, Michael D.; Schneider, Stephen H. The Complex Dyanmics of the Climate System: Constraints on our Knowledge, Policy Implications and the Necessity of Systems Thinking. Philosophy of Complex Systems. Volume 10 in Handbook of the Philosophy of Science. 2011. Pages 467-505

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