Deutsch-Dienstag: melunis Ausflug in die wunderbare Welt der Sprache #37 – Rotkäppchen die Dritte

Herzlich willkommen zurück meine Lieben! Schön, dass ihr auch für den dritten Rotkäppchenteil Zeit habt! 📚📖


In den vergangenen beiden Wochen haben wir uns bereits mit den Rotkäppchen Versionen Charles Perraults und der Gebrüder Grimm beschäftig. Heute folgt der dritte und letzte Teil dieser Miniserie.

Die Version von Tahar Ben Jelloun – Marokko

Tahar Ben Jellouns Version La petite à la burqa rouge („Die Kleine in der roten Burka“) spielt wieder etwa 150 Jahre später, doch lassen sich bezüglich des Frauenbildes leider kaum Unterschiede zwischen dem deutschen des 19. Jahrhunderts und dem marokkanischen des 21. Jahrhunderts feststellen.

Die Rolle der Frau wird in Marokko durch den Islam definiert, da dieser die konstitutionell festgelegte Staatsreligion ist. Der Koran besagt u. a., dass die Aufgabenbereiche der Frau innerhalb des Hauses liegen, zur Erfüllung dieser Aufgabe sollen Frauen nicht lange in die Schule gehen, sondern früh die Haushaltsführung und Kindererziehung beigebracht bekommen und heiraten. Sie sollen zurückhaltend und ihrem Mann hörig sein, dieser hingegen hat die Entscheidungsgewalt in allen übrigen Lebensbereichen.

Die Vorgaben des Islams führen dazu, dass Frauen in Marokko kaum Rechte haben, geschweige denn Geld und oftmals auch keine (gute) Bildung. Mittlerweile haben zwar auch Frauen das Recht sich scheiden zu lassen und die Gehorsamspflicht gegenüber dem Ehemann wurde abgeschafft, doch die Umsetzung dieser neuen Vorgaben sieht häufig anders aus.
Laut einer Statistik widerfährt mehr als einem Drittel der Marokkanerinnen Gewalt, meist ausgeübt von den Ehemännern. Strafbar ist das jedoch nicht, da der Koran ausdrücklich sagt, der Mann solle den Ungehorsam seiner Frau durch Schläge bestrafen. Besonders heikel ist die Lage bei Vergewaltigungen. So garantierte beispielsweise bis Anfang 2014 der § 475 des marokkanischen Strafgesetzbuches einem Vergewaltiger Straffreiheit, wenn er als Wiedergutmachung sein Opfer heiratete. Das ist jetzt zwar nicht mehr möglich, doch werden Frauen, die außerhalb einer Ehe schwanger werden und die Kinder, die so gezeugt werden, nach wie vor ausgegrenzt, zusätzlich benachteiligt das Erbrecht Frauen, indem sie nur halb so viel erben können wie Männer und Abtreibungen sind nur möglich, wenn das Leben der Schwangeren in Gefahr ist.

Wie ihr seht, ähnelt das Bild der Frau im Marokko des 21. Jahrhunderts auf erschreckende Weise dem in Frankreich vor 300 und in Deutschland vor 150 Jahren. Frauen werden noch immer in- und außerhalb der Ehe unterdrückt und haben kaum Rechte, werden von der Gesellschaft ausgeschlossen sowie als minderwertig und als Gefahr für die männliche Moral betrachtet. Es gibt Bestrebungen, diese Ungleichheiten aufzuheben, doch sind kaum Resultate zu verzeichnen, obwohl immer mehr Frauen in der Politik mitwirken und auch immer mehr Frauenrechtsbewegungen entstehen. Eine tatsächliche Besserung der Situation würde erst eintreten, wenn sich die marokkanische Regierung zu einer Trennung von Religion und Staat entschließt.


Die Geschichte

Jelloun hat all das oben genannte bei seiner Rotkäppchen Version berücksichtig und dadurch eine spannende Verbindung aus altertümlicher und moderner Erzählung geschaffen. Doch gibt es dadurch wesentliche Unterschiede zu den zuvor besprochenen Märchen.

Die Unterschiede beginnen damit, dass Jelloun im Gegensatz zu Perrault und den Grimms seiner Protagonistin einen Namen gegeben hat. Sie heißt Soukaïna und ist von Beginn an klug. Sie und ihre Mutter wissen, dass es für Frauen absolut notwendig ist, sich bis auf den kleinsten Flecken Haut einzuhüllen, damit sie auf gar keinen Fall die schwache Moral der Männer reizen. Daher beginnt die Geschichte mit der absurden Situation, dass die Mutter das Mädchen in ein Tuch hüllt, bis sie nur noch aus einem Auge gucken kann.

Der Wolf wird in Jellouns Version von einem Soldaten verkörpert und Soukaïna ist sich der Gefahr, die von ihm ausgeht, sehr bewusst. Sie versucht also die Konfrontation mit ihm zu vermeiden und als es unweigerlich zu einem Gespräch kommt, stellt sie sich naiv:

„Soukaïna fit mine de ne rien comprendre et se mit à pleurer.“
(„Soukaïna tat so, als verstehe sie nichts und begann zu weinen.“)

Doch nicht nur das, auch sie stellt dem Soldaten Fragen, die augenscheinlich naiv sind, durch die sie jedoch auch einiges über ihn und seine Waffen erfährt. Sie weiß die Situation zu ihrem Vorteil zu nutzen; diese Eigenschaft hatten ihre Vorgängerinnen nicht.

Ein weiterer zentraler Unterschied ist, dass Soukaïna gegen den Soldaten kämpft, als dieser sie erst vergewaltigen und dann aufgrund ihres Ungehorsams umbringen will, ihn verspottet und sich am Schluss selbst rettet. Sie ist also das erste Rotkäppchen, dass nicht dank des Jägers überlebt, sondern aus eigener Kraft heraus. Dieser Prozess bewirkt, dass aus der klugen Soukaïna eine weise Frau wird. Das Mädchen zeigt mit seinem Verhalten, dass man belohnt wird – in diesem Fall mit Weisheit – und es der Gesellschaft hilft, wenn man sich gegen das Böse zur Wehr setzt.

Der Autor stellt in seiner Version des Märchens die archaischen Zustände seiner Heimat - verkörpert durch den Soldaten - und eine moderne Lebensweise voller Mut und Potential - verkörpert durch Soukaïna - gegenüber und drückt sehr deutlich aus, wie sich die Zukunft seiner Meinung nach entwickeln sollte.

Tahar Ben Jelloun hat eine Reihe von Märchen auf diese Weise in die Moderne versetzt und damit in seinem Sammelband „Mes contes de Perrault“ von 2014, erschienen bei Seuil, überaus lesenswerte Geschichten kreiert, die ich allen ans Herz legen möchte, die mal etwas ganz Anderes lesen und einen Einblick in eine fremde Kultur erhalten möchten.

Ihr Lieben, das war (fast) alles, was ich zu Rotkäppchen zu sagen habe. Über eure Gedanken zu diesem Thema freue ich mich sehr! Vielleicht kennt ihr noch eine weitere Version oder eine Adaptation einer anderen Geschichte in ein völlig neues Umfeld. Wie hat euch der Vergleich gefallen? Welches ist euer Lieblingsmärchen und wieso? Und wer von euch weiß, wieso Rapunzel heißt, wie sie heißt?


Bevor mir noch mehr solcher Fragen einfallen, verabschiede ich mich vorsorglich lieber. Habt eine nicht allzu stressige Vorweihnachtswoche, lasst euch nicht aus der Ruhe bringen und atmet zwischendurch mal tief durch!
À la prochaine fois
Votre meluni
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