"Lasst mich sterben..."

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Schon beim Betreten des Hauses höre ich laut, monoton und im 3-Sekundentakt wiederholend: "Ich will sterben. ich will sterben, lasst mich sterben, ich will sterben, nein, nein, nein, lass mich sterben..."
Das sieben Stunden lang, manchmal auch mehrere Tage hintereinander. Dabei verliere ich Null meiner Nerven, trotz der Ratlosigkeit und des Mitleids, die in mir in solchen Situationen aufkommen.

Fast täglich setze ich mich mit Situationen wie Diesen auseinander. Es geht schon um 7 Uhr in der Früh los, wo ich mich als "unfähiges Ding" oder "Arschloch" beschimpfen lasse. Ebenso geht oft auch kein Weg an Situationen vorbei, in denen ich gezwickt, geschlagen, angeschrien oder angespuckt werde. Doch stets wasche ich, creme ein und massiere. Bin Friseurin, Manikürin und manchmal auch Pedikürin.

Ich organisiere Therapien, Zahnarztbesuche und mobilisiere Menschen. Die verrücktesten Vorstellungen werden von mir - ohne Hinterfragen - validiert. Beim Baden und Duschen erfahre und erkunde ich die spannendsten Biografien. Ich begleite auf die Toilette und sammle dabei täglich mehr als genug "Nahkoterfahrungen", während ich ein Zimmer weiter ein Leben, welches vor Kummer & Leid zerbrechen droht, rette.

Das alles dokumentiere ich sorgfältig, trotz der fragwürdigen Legalität und selbst das Dokumentieren dokumentiere ich - um des Willens der Bürokratie. Das Essen und Trinken reiche ich an, manchmal mit Engelsgeduld und einer Pipette und vergesse nie die Mundwinkel abzuwischen. Während ich Zahnprothesen reinige, versuche ich eine Frau am Telefon zu beruhigen, die in Tränen ausbricht vor lauter schlechtes Gewissen, weil sie mit der Situation ihrer Mutter überfordert ist.

Zu unchristlichsten Zeiten muss ich schweren Herzens fremde Menschen anrufen, um ihnen sagen zu müssen, dass ihre geliebte Mutter verstorben ist. Während ich Leben verlängere, repariere ich Wunden und rasiere Bärte auf einer faltigen Haut. Stets laufe ich durch die Gänge wie ein Wachhund, um den nächsten Sturz, den nächsten Hüftbruch - und damit auch eine größere Einschränkung - zu verhindern. Bestattungsdienste werden von mir informiert und selbst im Krankenhaus erkundige ich mich nach dem Wohlergehen.

Danach stelle ich ein Becher Trinken auf den Nachttisch und schalte das Nachtlicht ein. Ein "Gute Nacht, bis morgen in alter Frische!" kommt schon automatisiert aus meinem Mund bei diesem Ritual.

Das mache ich, weil es meine Pflicht ist!

Stets bei aller Würdelosigkeit von Schicksalen, verliere ich nie den Respekt und nie meinen Humor. Bei all den Missständen verbinde ich mein langanhaltendes Dasein mit Altruismus und Egoismus und mache meine Menschlichkeit zu einem Gut.

Die Würde des Menschen ist unantastbar.

Bitteschön.

Bis bald,

Variola ✾


Bild: © Cherry Laithang via Unsplash / CC0 License

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