Christoph Martin Wieland über das Nichts

Ist es nicht sonderbar, daß wir vom Nichts entweder gar nicht reden müssen, oder uns so auszudrücken genötigt sind, als ob es etwas wäre? Freilich sollten wir, da dem Worte Nichts weder eine Sache noch eine Vorstellung entsprechen kann, gar kein solches Wort in der Sprache haben. Was ist Nicht-Sein? Ein Unding, ein hölzernes Eisen, eine unmögliche Verbindung zwischen Nein und Ja, kurz, etwas sich selbst Aufhebendes. Was ist, ist, und da es nie Nichts sein konnte, so liegen in dem Begriff des Seins alle Arten von Sein, gewesen sein, jetzt sein, künftig sein, immer sein, notwendig enthalten. Mit der dilemmatischen Formel, „Sein oder Nicht-Sein“ ist gar nichts gesagt; hier findet kein oder statt; Sein ist das erste und letzte alles Fühlbaren und Denkbaren. Indem ich Sein sage, spreche ich eben dadurch ein Unendliches aus, das alles, was ist, war, sein wird und sein kann, in sich begreift. Indem ich also mich selbst und die meinem Bewußtsein sich aufdringenden Dinge um mich her denke, ist die Frage nicht: Woher sind wir? oder warum sind wir? — sondern das einzige was sich fragen läßt und was uns kümmern soll, ist: Was sind wir? Und ich antworte: Wir sind zwar einzelne aber keine isolierte Dinge; zwar selbstständig genug, um weder Schatten noch Widerscheine, aber nicht genug, um etwas anders als Gliedmaßen (wenn ich so sagen kann) oder Ausstrahlungen (wenn du es lieber so nennen willst) des unendlichen Eins zu sein, welches ist, und alles, was da ist, war und sein wird, in sich trägt.
(Christoph Martin Wieland - Aristipp und einige seiner Zeitgenossen)

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