Ein heftiger Ruck schüttelte mich aus meinem Schlummer. Ich bin während der Fahrt unbemerkt eingedöst. Wir mußten wohl über ein Schlagloch gefahren sein. Mit der Hand streifte ich mir den Schlaf aus dem Gesicht und spannte meine Aufmerksamkeit an. Die Mitfahrer schienen nichts bemerkt zu haben und plauderten munter weiter, auf ihren Plätzen von der Unebenheit der schlecht erhaltenen Straße sporadisch hin und her geschüttelt.
Von außen drang ein unheilvolles Geräusch an meine Ohren. Ein Knirschen und Kreischen, Klopfen und Schlittern. Ich löste den Hakenverschluß des Türfensters, und spähte heraus. Erschrocken entdeckte ich das kaputte Rad am hinteren Ende der Kutsche, an dem einige Holzspeichen geborsten waren, und nun zerfranst und krumm am Rahmen hingen. Auch der Metallbolzen, der das Rad an die Achse fixiert, war schon fast ganz rausgedrückt und drohte jeden Moment aus seinem Loch zu springen. Geschwind schnalzte ich in die Kabine zurück und schilderte aufgebracht meinen Mitfahrern das Geschehen. Sie waren aber so in ihr Geplapper vertieft, daß ich kaum Gehör fand. Mit lauterer Stimme wiederholte ich eindringlich alles von vorne, worauf der Fahrgast vor mir seinen Kopf zur Hälfte in meine Richtung drehte, und, empfindlich von meiner Unterbrechung gestört, mich seitlich musternd antwortete, daß es schon nicht so schlimm sei, und wenn, dann der Kutscher dafür zuständig wäre. Ich wollte erwidern, aber schon drehte er sich wieder zu den anderen und plapperte gesellig weiter.
Leicht pikiert über diese Unhöflichkeit beschloß ich nach dem Kutscher zu schauen. Wieder aus dem Fenster gelehnt spähte ich nach vorne, und wollte zum Kutscher rufen, als ich mit Schrecken feststellte, daß er krumm auf seiner Pritsche saß. Ich rief laut ‚Hey!‘, aber es kam nichts zurück. Ich schrie nochmal nach vorne, aber es kam keine Reaktion. Also lehnte ich mich nun gefährlich weit raus, in der Hoffnung ihn am Arm zupfen zu können, als ich plötzlich ein gläsernes Kullern hörte. An seinen Schuhen rollte eine leere Flasche von links nach rechts, und mir fuhr ein Schrecken durch die Glieder. ‚Er ist ja im Delirium! Er hat zu viel getrunken!‘. Sofort dachte ich an die Zügel, und als ich sie sah wurde mir klar, daß wir kurz vor einem Unglück standen. Die ledernen Streifen hingen in den schlaffen Händen des Kutschers, und das nächste Schlagloch würde sie ihm ausschlagen.
Ich kletterte zurück in die Kabine und griff kräftig den Arm des Passagiers neben mir. So laut ich konnte schilderte ich ihm alles, in der Hoffnung er höre mir wenigstens zu. Ich schüttelte ihn dabei sogar in aller Höflichkeit, aber er drehte sich nicht einmal um. Was für ein seltsames Verhalten, dachte ich mir. Stattdessen zog er eine glänzende, goldene Taschenuhr aus seiner Innentasche, um der reizenden Frau vor ihm die Zeit mitzuteilen. Doch war seine Geste durchschaubar, und es ging ihm weniger um die Höflichkeit, sondern er wollte die Frau mit seinem Wohlstand betören. Dem Blick der Frau nach zu urteilen war sie sichtlich angetan, und lächelte dem Mann ein kokettes ‚Vielen Dank‘ zu. Der Mann neben ihr prustete laut auf und legte mit einem kräftigen Griff seine Hand auf ihren Oberschenkel ‚Nun mach‘ ihn doch nicht so wild!’, und grinste dabei ganz verschmitzt. Die Aufmerksamkeit gefiel ihr und sie beugte sich nah an sein Gesicht vor, und flüsterte ihm etwas zu, worauf er so unverhohlen grinste, daß seine Lippen schmal wurden. Und da fiel mir erst sein roter Kopf auf.
‚Hört zu; ein Rad ist kaputt, der Kutscher ist im Delirium, und ihm fallen jeden Moment die Zügel aus seiner Hand …‘ wollte ich das Treiben unterbrechen, aber sie hörten mich nun gar nicht mehr. Sie wurden nur immer lauter. Der Herr reichte der Dame eine Flasche aus der sie einen kräftigen Schluck nahm, während der andere Mann vor ihr, vom Rausch schon enthemmt, sie am Rock zupfte, was sie zum Lachen brachte. Ihre Koketterie verwandelte sich zusehends in obszönes Gebaren. Dem Mann vor mir versetzte ich einen kräftigen Stoß um ihn endlich zum Zuhören zu zwingen, aber sein Gesicht wurde nur zur Fratze. Eine glänzende Schicht Schweiß bedeckte seine glühend rote Haut, und seine vor Geilheit funkelnden Augen drückten sich aus seinen Augenhöhlen. Ich packte darauf die Frau an den Schultern und schüttelte kräftig, aber sie sah mich nicht einmal an. Sie hypnotisierte den Mann mit der goldenen Uhr, mit ihrem einst schönen mandelbraunen Blick, der jetzt aber einem dunklen Schleier berechnender Bösartigkeit gewichen ist. Der Golduhrmann war aber schon ganz im Banne, und zupfte, mit einem dümmlichen Grinsen im Gesicht, gierig an ihrer Strumpfhose. Egal wie sehr ich schlug und rief, keiner hörte mich mehr.
Ich mußte die Angelegenheit selbst in die Hand nehmen. Ich öffnete also die Kabinentür und beschloß nach vorne zu klettern um die Zügel zu retten, aber es war zu weit weg. Auch schüttelte sich die Kutsche inzwischen so sehr, daß es mir größte Mühe bereitete mich festzuhalten. Das kaputte Rad eierte gefährlich stark, und es sah aus, als würde es jeden Moment endgültig abfallen. Hilflos blickte ich auf den Weg vor uns und sah, wie die Straße mit immer größeren Schlaglöchern übersät war, und wie weiter vorne der Weg abschüssiger wurde. Zum Himmel hinaufblickend gewahrte ich erst die dunklen, und darin eingewoben schon fast schwarzen Wolken, die sich ineinander wanden, wie Schlangen in ihrem Nest. In diesem lärmenden Tumult drehte ein galoppierendes Pferd seinen Kopf zu mir, und ich sah wie tollwütiger Schaum von seinem Maul tropfte. Aber schlimmer waren die Augen dieses majestätischen Tieres. Der einst warme, dunkle Blick wurde verdrängt von tiefschwarzen Augen die wild und zornig penetrierten. Und dann bemerkte ich erst, in was für einem schnellen Tempo wir die Straße herunter hetzten.
Ich wußte nicht was tun. Soll ich mich zurück in die Kabine setzen, zu den irre gewordenen, und mich dem Schicksal ergeben, oder sollte ich hinausspringen, auf die Gefahr hin mich grob zu verletzen? Mir blieb keine Zeit, da die abschüssige Bahn immer näher kam, und so konnte ich mir nicht die Muse gründlicher Abwägung erlauben. Das lärmende und immer zügelloser werdende Treiben meiner Mitreisenden stieß mich auch immer mehr ab. Ich verachtete inzwischen ihre Profanität, und ihre Blindheit. Ganz im Reflex, und also ohne zu überlegen, riß ich die Kabinentür auf und sprang aus der Kutsche.
Es war ein harter Aufschlag und ich zerriß mir meine Kleidung. In den Löchern sah ich die Wunden aufgeschürfter Haut. Aber es war nicht so schlimm. Viel mehr setze eine allmähliche Ruhe ein, die immer mehr den Lärm der Kutsche, und ihrer wahnsinnigen Passagiere verdrängte. Ich sah ihnen nach, wie sie in ihr Verderben rasten, und mir war, als würden die dunklen Schlangenwolken sich nah unten hin herabsenken, um sich auf den Weg zu legen, bis die Kutsche darin verschwand.
So stand ich da, alleine, und ohne eine Idee wie es nun weitergehen soll. Vielleicht gehe ich einfach den Weg zurück und schaue dann was sich ergibt? Ich klopfte mir den Staub von der Kleidung und drehte mich schon zum Gehen um, als ich plötzlich jemanden auf der anderen Straßenseite erblickte. Auch sie hatte zerrissene Kleidung und war wohl heftig hingefallen. Also ging ich zu ihr herüber.
„Hallo. Wie bist du hierher gekommen?“
„Ich bin aus einer Kutsche gesprungen. So wie du.“
„Hast du dir weh getan?“
„Ein bisschen, ja. Aber nichts was nicht heilt.“
„Und, weißt du schon was du tun willst?“
„Nein. Und du?“
„Nein. Aber ich überlegte mir erst mal ein Stück zurückzulaufen, und dann zu schauen was sich ergibt. Magst du mitkommen?“
„Ja.“
Wir liefen los und erzählten uns unsere Erlebnisse. Der Himmel über uns klarte sich allmählich auf.