Ich wurde vom Klang des grollenden Donners aus der Ferne aufgerüttelt. Ich schmunzelte und genoss die quasi-rationale Entschuldigung zu verschlafen. Ich konnte Licht durch meine geschlossenen Augenlider sehen und die in der Nähe kreischenden Möwen hören. Wenn es nicht bald regnen würde, würde ich mich wahrscheinlich dazu aufraffen, rauszugehen und etwas Gartenarbeit zu verrichten. Der Frühling schaffte es endlich, einem besonders langen und verschneiten Winter den Garaus zu machen.
Ich habe den Boden zu fegen, Blätter zu rechen, und Pflanzen zu setzen, doch ich müsste auf einen anderen Samstag warten. Ich streckte meine Beine aus, während ich weiterhin gemütlich unter der Decke blieb. Ich streifte mit dem Fuß am Ende des Betts entlang, und wurde von einem festen Gegenstand gebremst, der im Weg war. Leicht genervt, aber nicht ganz überrascht, schob ich meine Katze mit dem Fuß weg, sodass meine große Statur die volle Länge des Betts zu Nutze machen konnte. Sie reagierte auf dieses böse Erwachen indem sie aufstand, ihre Muskeln dehnte, und sich wieder niederließ, um weiter zu schlafen.
Ich sollte vielleicht erwähnen, dass ich nicht mit Schlaf gesegnet bin, und wenn er unterbrochen wird, kann ich ziemlich ungemütlich werden. Seit ich denken kann leide ich unter Schlafstörungen, und nehme Medikamente ein, die mir helfen zu schlafen. Es funktioniert ziemlich gut, und ich versuche stets nachts genug Schlaf zu bekommen, dass ich nicht tagsüber am Steuer einschlafen würde und jemand verletzen könnte. Die Pillen, die ich jetzt nehme, scheinen mich vergesslicher zu machen, als ich es gewesen bin, doch ich kann damit leben. Nicht in der Lage zu sein einzuschlafen ist schlimmer.
Als ich zurück in die Bewusstlosigkeit glitt, vernahmen meine Ohren plötzlich ein gedämpftes Geräusch von irgendwo her. Es war ein monotones Piepen, wie das eines Weckers. Im Wissen, dass es nicht meiner ist, liege ich still und versuche, ihn zu ignorieren, geduldig darauf wartend, dass der Besitzer aufwacht, und ihn abstellt. Nach etwa 10 Minuten rollte ich mich auf den Rücken und ächzte. Ich akzeptierte die Tatsache, dass ich nicht noch mal schlafen würde. So viel zu einem gemütlichen Nickerchen mit meiner Katze während des Gewitters.
Die Geräusche kommen aus der Wohnung des Nachbarn über mir, was mir jetzt eindeutig bewusst ist. Ich liege, und starre die Decke für ein paar weitere Minuten lang an, mit einem Hass auf meinen Nachbarn, bevor ich mich endlich dazu entschied, aufzuwachen. Ich ging verschlafen in die Küche, um mir einen Pott Kaffee zu machen. Meine nackten Füße tappten leise auf dem alten Holzboden. Ich duschte mich, und setzte mich dann an den Küchentisch mit einer dampfenden Tasse Kaffee, an der ich vorsichtig nippte.
Als ich still dasaß und versuchte, endgültig aufzuwachen, bemerkte ich, dass der Alarm von oben immer noch zu hören war. Ich blickte auf die Uhr. 10:11. Der Wecker fing um 9 Uhr 30 an, zu klingeln. Herr Gott, der Typ muss in der Lage sein, alles zu verschlafen. Wenn der Wecker laut genug ist, dass ich ihn hören kann, muss er ihm da oben in Ohren dröhnen.
Vielleicht ist er tot, habe ich mir mit einem bösen lächeln gedacht. Ich habe weitere Theorien aufgestellt. Er ist wahrscheinlich ein Idiot, der die Stadt verlassen hat, ohne den Wecker abzustellen.
Ich trank meine Tasse Kaffee aus, und trat durch die Vordertür, mit der vollen Absicht, den Kerl auszuschimpfen, sofern er daheim war. Ich stieg wütend die Treppe hinauf zu seiner Veranda. Als ich oben ankam, konnte ich durch das Glas in seiner Tür sehen, dass es in der Wohnung dunkel war. Ich spähte durch das Fenster und sah die leblosen Möbel. Ich klopfte und wartete. Keine Antwort. Ich klopfte erneut zweimal, und bekam keinen Hinweis darauf, dass irgendjemand zuhause wäre. Ich ging zu seinem Fenster, und beim Versuch, es zu öffnen, stellte ich fest, dass es mit Leichtigkeit aufgeschoben werden konnte.
Ich bückte mich nieder, und rief: „Hallo?“. Keine Antwort. Ich rief noch einmal, lauter. Ich horchte, ob irgendein Geräusch von innen kommt, doch da war nichts, bis auf das Piepen des Alarms. Von meiner Position am Fenster aus konnte ich in sein Schlafzimmer schauen, und niemand lag im Bett. Ich wog einen Moment lang ab, und entschied, dass ich gleich reinspringen könnte, um den Alarm auszustellen. Ich bin so weit gekommen, und das verdammte Ding liegt etwa 20 uneingeschränkte Schritte von mir entfernt. Er wird niemals erfahren, dass seine Privatsphäre verletzt worden ist, habe ich mir gesagt.
Ich öffnete das Fenster so weit wie es aufging, und stieg hindurch. Ich hielt inne und horchte, um sicher zu gehen, dass ich nicht von einem verängstigten Typen mit einem Totschläger rausgejagt würde. Nee, immer noch keiner zuhause. Ich ging in sein Schlafzimmer, wo der Alarm dröhnte.
Ich sah am Boden verstreute Klamotten. Der Typ ist ganz schön schlampig, doch ich schätze, das ist nichts ungewöhnliches. Ich ging rüber, und schaltete den Alarm aus.
Ahhh, Stille. Es klingelte mir in den Ohren, als ich mich an die Stille in der Wohnung gewöhnte. Der friedliche Klang der Ozeanwellen liebkoste meine Ohren. Ich wagte einen neugierigen Blick ins Badezimmer, und sah mehr Unordnung, Flaschen und anderes Zeug lagen verteilt am Boden und auf den Ablagen. Sieht so aus, als hätte jemand etwas gesucht, oder hätte eilig seine Sachen gepackt.
Als meine Augen das Zimmer absuchten, spürte ich plötzlich, wie etwas Weiches mein Bein berührt. Mit einem verängstigten Schrei tat ich einen Schritt zurück, nur um eine Katze vorzufinden, die neugierig zu mir aufschaut.
Puh. Das Ding verkürzte mein Leben um 10 Jahre.
Angesichts der überstürzten Sachlage in der Wohnung frage ich mich, ob der Kerl daran gedacht hat, seine Katze zu füttern, bevor er gegangen ist. Ich ging zurück in die Küche, und fand den Napf der Katze mit einem Haufen Futter überschüttet vor. Die Tüte Futter saß verdreht neben dem Napf.
Etwas in meinem Hinterkopf nagte an mir, und bereitete mir immer mehr Unbehagen. Je länger ich hier drinblieb, desto größer ist das Risiko, dass ich während meines Einbruchs erwischt werde. Mit meiner Neugier und meinem Samariterbedürfnis befriedigt stieg ich durchs Fenster, und schloss es hinter mir. Ich lehnte mich gegen die Balkonhalterung und genoss die Genugtuung, meine geheime Mission erfolgreich beendet zu haben.
Mann, der Bastard hat’s gut, dachte ich. Sein Balkon bietet einen schönen Ausblick auf den Ozean, über die benachbarten Häuser und Baumspitzen hinweg. Ich habe die dunklen Wolken begutachtet, die sich in der Ferne aufgetürmt haben, jetzt merklich näher als zuvor. Ich hätte beinahe den aufkommenden Sturm vergessen.
Wie gerufen, ertönt über dem Himmel ein Donnergrollen, das die Stille bricht, und mich an das Bevorstehende erinnert. Als ich zuhöre, wie das Poltern leiser und leiser wird, kehrt das gleiche unbehagliche Gefühl von vorhin zurück. Doch diesmal kann ich es nicht an der Furcht, erwischt zu werden, festmachen.
Es war still. Zu still. Ich lauschte für ein paar Sekunden, und erwartete gewiss, irgendeine Art Geräusch zu hören. Da ich mitten in der Stadt bin, sollte ich jetzt alle erdenklichen Geräusche hören. Ich strengte mich an, ein Auto, Hundebellen, spielende Musik, sprechende Leute oder sonst was zu hören. Aber da war nichts. Nicht mal Vögel, was ich beunruhigend fand. Nur das Röhren des Ozeans und das Grollen des Donners. Seit wann war es so still? Ich hatte es vorher nicht bemerkt.
Ich bin ziemlich introvertiert, und arbeite von zuhause, also kann ich es tagelang ertragen, mit niemandem zu reden. Und wenn ich mit jemandem rede, ist es für gewöhnlich der Kassierer im Supermarkt. Doch das war nervenaufreibend. Jetzt ist alles, was ich hören will, eine Stimme.
Ich rief nach irgendjemandem: „Ha-hallo? HALLO?“ Meine zitternde Stimme hallte durch die Bäume und die Nachbarhäuser. Es gab keine Antwort. Seitdem ich aufgewacht war, war der einzige Kontakt zu Lebewesen, den ich hatte, mit zwei Katzen. Einsamkeit fing an, wie kaltes Wasser in mich einzudringen. Ein Geräusch, das dem Rauschen eines alten Fernsehers ähnelt, bahnte sich in meine Ohren, als mir die Panik in den Hals stieg.
Und dann hörte ich es.
Oder besser gesagt, hörte auf, es zu hören.
Weißt du, wie man manchmal ein andauerndes Geräusch lange genug hört, bis es in den Hintergrund deines Unterbewusstseins rückt, obwohl es immer noch zu hören ist? Wie das laute Rauchmelderpiepen, die Heuschrecken im Wald, oder ein elektrischer Lüfter? Erst wenn das Geräusch verstummt, wird es dir bewusst. Vielleicht ist es das, was passiert ist. Oder vielleicht hat es mein Verstand ausgeblendet, um mich vor der Furcht zu beschützen, die ich empfinde. Es spielt jetzt eh keine Rolle mehr.
Schwindelig trete ich langsam vom Balkongelände zurück, bis ich an den feuchten Plastikstuhl hinter mir stoße. Ich hörte nicht, wie die Stuhlbeine über das Holz kratzten, als ich mich in den Stuhl fallen ließ, nachdem meine Beine schlappgemacht hatten.
Mein bestürzter Verstand versuchte verzweifelt den Lärm wegzuerklären, als er sich dort wieder und wieder abspielte, wo er mir trüb in Erinnerung blieb, und wie Asche brannte. Es ließ mir das Wasser in die Augen steigen. Aber der Klang war unbezweifelbar.
Es war der Notfallalarm der Stadt. Den Alarm, den sie verwendeten, um vor einer bevorstehenden Katastrophe zu warnen. Als ich das endlich akzeptierte, machte mein Gedächtnis eine Verbindung.
Die Notfall-Wettermeldung, die kam, als ich letzte Nacht einschlief. Etwas von einem großen Sturm und einer massiven Brandung.
Als die ernüchternde Realität über mich wusch, erreichte das Rauschen in meinen Ohren ein betäubendes Ausmaß. Doch es war nicht meine Panik. Es war der Ozean.
Mein Gedächtnis lässt mich durchaus häufig im Stich, aber normalerweise nicht so kolossal. Nicht mit solch einer… Endgültigkeit. Ein krankes Gefühl der Reue zerrte an mir, und hinterließ mich in meinen letzten Momenten nur mit endlosen aber dennoch flüchtigem Gewissensbissen, und der Scham darüber, meinen eigenen Untergang verursacht zu haben.
Ich stand langsam auf, und ging zum Rand des Balkons rüber, um in Richtung Ozean zu spähen. Eine monströse, gnadenlose Welle kollidierte mit meiner verlassenen Nachbarschaft.
Mein Herz fiel mir in Hose. Ich war alleine.
Originaltitel: What I Forgot
Autor: herbalcell
Link zum Original: http://www.creepypasta.com/forgot/
Lizenz: https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/